Kiefergelenkerkrankungen

Viele Patienten leiden unter akuten oder chronischen, schmerzhaften Funktionseinschränkungen des Kiefergelenkes und der Kau- sowie teilweise auch der Halswirbelsäulenmuskulatur. Innerhalb dieser so genannten cranio-mandibulären Dysfunktionen werden drei Hauptgruppen unterschieden, die aber auch kombiniert aufgrund gegenseitiger Verstärkung auftreten können

  • Dauerhafte oder bewegungs-abhängige Schmerzen in der an der Unterkieferbewegung beteiligten Kau- und auch Nackenmuskulatur

  • Abnutzungsbedingte oder krankhafte Gelenkveränderungen, wie zum Beispiel Arthrose, Wachstumsverzögerungen, verstärktes Wachstum oder chronische Entzündungen im Kiefergelenk

  • Fehllagen oder Bewegungseinschränkungen der Knorpelscheibe (Diskus artikularis) im Kiefergelenk


Während der überwiegende Anteil dieser Dysfunktionen durch kombinierte unterschiedliche konservative Behandlungsmaßnahmen (Vermeidung harter Speisen, Abbau exogener Stressauslöser in Kombination mit verschiedenen Entspannungstechniken, Aufbissschienen, Krankengymnastik und Verabreichung schmerzlindernder und entspannender Medikamente) zum vollständigen Rückgang gebracht werden kann, liegt der Anteil an Gelenkerkrankungen, bei denen eine chirurgische Maßnahme angezeigt ist, bei maximal 5%. Hierbei ist eine operative Intervention am Kiefergelenk in den allermeisten Fällen erst nach einer erfolglosen konservativen Therapie sinnvoll. Insbesondere muss eine adäquate, individuelle Aufbissschienenbehandlung, z.B. zur vorhergehenden Reduktion des Zähneknirschens oder Pressens, oder auch zur Normalisierung eines gestörten Bisses (der das Kiefergelenk und die Kaumuskulatur überlastet) über einen Zeitraum von einigen Monaten durchgeführt worden sein.

Wenn sich anschließend nach entsprechender klinischer und kernspintomographischer Diagnostik herausstellt, dass die Schmerzen und Bewegungseinschränkungen ihren Ursprung primär im Kiefergelenk haben, kommen zunächst minimal invasive chirurgische Techniken zur Therapie dieser Kiefergelenkerkrankung zum Einsatz: Bei der in örtlicher Betäubung durchzuführenden Kiefergelenkspülung, auch als Arthrozentese und Lavage bezeichnet, wird der obere Anteil des Kiefergelenks mit zwei dünnen Nadeln punktiert und mit Flüssigkeit unter Druck gespült. Der Effekt dieser minimal invasiven Maßnahme besteht darin, feine Narben zu lösen und entzündete Zellen bzw. Eiweißstoffe, die für Schmerzen verantwortlich sein können, herauszuspülen. Durch diese Entfernung kann auch eine entzündete Gelenkoberfläche oder Gelenkflüssigkeit ausheilen.

Vom Vorgehen her ist diese der Arthrozentese sehr ähnlich. Über punktuelle Zugänge werden eine Optik und auch unterschiedliche chirurgische Instrumente in den oberen Kiefergelenkanteil eingebracht. Diese miniaturisierten Werkzeuge (z.B. Skalpelle, Scheren, oder sogar Lasersonden) ermöglichen das gezielte Lösen von ausgeprägten Verwachsungen unter Sicht. Es besteht auch die Möglichkeit, beschädigte Gelenkflächen zu glätten, um die Regeneration dieser zu erleichtern. Ein verlagerter Diskus, der bereits über lange Zeit die Bewegung des Gelenkes blockiert, kann in die ursprüngliche Position zurückgeführt werden. Allerdings ist die Aussagekraft dieser Gelenkspiegelung (Arthroskopie) hinsichtlich der Beurteilung einer Perforation des Gelenkknorpels aufgrund von Verwachsungen begrenzt, so dass ein unauffälliger arthroskopischer Befund nicht sicher für das Fehlen einer Schädigung des Gelenkknorpels oder dessen Aufhängungsbandes spricht.

Wenn alle vorgenannten konservativen und minimal invasiven Behandlungsverfahren zu keinem Erfolg geführt haben und am Kiefergelenk selber aufgrund eines Unfalles, durch Verschleiß, Entzündungen, Wachstumsstörungen bzw. Fehlbildungen oder auch durch bösartige Neubildungen schwere Veränderungen vorliegen, werden offene Operationsverfahren eingesetzt. Ziel der offenen Verfahren, bei denen Zugänge von hinter dem Ohr (retroaurikulär) oder von vor dem Ohr (präaurikulär) gewählt werden können, besteht darin, bestimmte, stark geschädigte oder veränderte Gelenkanteile durch körpereigenes, aber teilweise auch durch künstliches Gewebe zu ersetzen. Das ästhetische Ergebnis nach beiden Zugängen ist als hervorragend einzustufen.

Ziel der offenen chirurgischen Therapie besteht darin, die Geweberegeneration wie aber auch die Kompensation durch umliegende Strukturen (z. B. der Muskulatur) zu fördern. Es werden operative Maßnahmen zur Wiederherstellung bzw. Entfernung des Gleitknorpels, also des Discus articularis von Diskusersatzoperationen, so genannten Interpositionsplastiken mittels körpereigenen oder künstlichen Gewebes unterschieden. Das wiederholte ungewollte Hervortreten des Gelenkköpfchens aus seiner Pfanne, die Luxation, wird in der Regel durch eine Abtragung des vorderen Gelenkhöckers (Eminektomie) therapiert. Hierdurch wird das selbständige Zurückführen des Gelenkkopfes in die Pfanne erleichtert, andererseits wird der Bewegungsumfang des Gelenkes im oberen Anteil durch die Narbenbildung reduziert.

Eine moderne Therapiealternative besteht heutzutage in der direkten Verabreichung von Botulinumtoxin unter EMG-Kontrolle in den für die verstärkte Mundöffnung verantwortlichen Kaumuskel (M. pterygoideus lateralis). Diese Therapieform setzt allerdings eine gute Patientenmitarbeit voraus. Bei chronischen Entzündungen, schweren arthrotischen Veränderungen oder einseitigem verstärkten Wachstum des Gelenkkopfes selber werden abtragende Verfahren zur Glättung und damit funktionellen Anpassung der Gelenkoberfläche (Condylar shaving) eingesetzt. Da hierbei die Gefahr der anschließenden Gelenkversteifung erhöht ist, wird ein solcher Eingriff in der Regel mit der Entfernung des meist zerstörten Diskus kombiniert, der anschließend wiederum durch Faszie vom Schläfenmuskel oder ein körpereigenes oder künstliches Knorpeltransplantat ersetzt werden muss, um die beiden in Kontakt stehenden Gelenkoberflächen zu trennen.

Die eigentliche Entfernung des Gelenkköpfchens, die so genannte Kondylektomie, erfolgt bei verschiedensten Gelenkerkrankungen wie Tumoren, oder schwerster Zerstörung aufgrund einer Entzündung oder nach vielfachen Voroperationen. Auch bei einer knöchernen Gelenkversteifung, der Ankylose, ist in der Regel eine solche hohe Kondylektomie zur Wiederherstellung eines Gelenkspaltes erforderlich, in den dann Knorpel oder Muskel zur dauerhaften Trennung eingelagert wird. Sollten wider Erwarten sämtliche o.g. operativen Maßnahmen zu keinem zufrieden stellenden stabilen Resultat führen oder weiterhin hochgradig deformierte Kiefergelenke vorliegen, besteht die Indikation zur Implantation einer individuell angefertigten, künstlichen totalen Kiefergelenkprothese. Diese wird heutzutage in der Regel anhand eines computertomographischen Datensatzes individuell für den Patienten angepasst.

Eine Besonderheit stellt die operative Versorgung von Kiefergelenkbrüchen dar. Während früher langwierige Schienenbehandlungen im Vordergrund standen, die teilweise zu unbefriedigenden funktionellen und anatomischen Resultaten führten, besteht heute die Möglichkeit, derartige Frakturen über den retroaurikulären Zugang anatomisch exakt wiederherzustellen und mit kleinen Schrauben zu fixieren. Ein Nachteil dieser Methode liegt in der Gefährdung des Gesichtsnervs, der sich in enger Beziehung zum Operationsgebiet befindet. Der wesentliche Vorteil dieses operativen Verfahrens, das in unserer Klinik in den letzten Jahren deutlich optimiert werden konnte, besteht in der Möglichkeit für den Patienten, das Gelenk sofort bewegen und belasten zu können. Eine offene Kiefergelenkoperation setzt grundsätzlich eine gute Patientenmitarbeit zur anschließenden intensiven Nachsorge mit Krankengymnastik unabdingbar voraus und ist ganz entscheidend für den Gesamterfolg der Behandlung.

    Abb. 1 und 2:

    CT in coronarer Schichtung einer doppelseitigen Kiefergelenkfraktur (1) vor und (2) nach osteosynthetischer Versorgung.

     

    Abb. 3:

    Arthroskopischer Blick in ein Kiefergelenk: verquollene Synovia bei Arthritis

     

    Abb. 4:

    Punktion des rechten Kiefergelenkes zur Spülung (Arthrozenthese).